Gouvernementalität

Die neue Wortschöpfung (Neologismus) Gouvernementalität (gouvernementalité) führte der französische Philosoph Michel Foucault am 1. Februar 1978 in der vierten Sitzung der Vorlesungsreihe Sicherheit, Territorium, Bevölkerung ein, die er von Januar bis April 1978 am Collège de France hielt. Entgegen vieler Interpretationen im deutschsprachigen Raum kann das Wort »gouvernementalité« nicht durch die Zusammensetzung von »gouvernement« (Regierung) und »mentalité« (Mentalität/ Denkweise), also »Regierungsmentalität«, übersetzt werden. Es leitet sich von »gouvernemental« ab und bezeichnet bei Foucault „[…]je nach Verwendung das Strategiefeld der Machtbeziehungen oder die spezifischen Merkmale der Regierungstätigkeit[…].“
(Situierung der Vorlesungen durch Sennelart, in: Foucault 2006:564)

Gouvernementalität umfasst für Foucault drei Aspekte, die charakteristisch für Weisen des Regierens in spätkapitalistischen Gesellschaften sind:

Erstens meint sie eine Gesamtheit aus Institutionen, Verfahren und Taktiken, die es erlauben eine spezifische Macht auszuüben. Eine Macht, „die als Hauptzielscheibe die Bevölkerung, als Hauptwissensform die politische Ökonomie und als wesentliches technisches Instrument die Sicherheitsdispositive hat.“ (Foucault 2006:162) Eine Macht also, die auf den Bevölkerungskörper zielt und Wissen sammelt. Sie erstellt Statistiken (Geburten- und Sterberaten etc.) und damit Durchschnittswerte sowie Normalitäten. Ihr entsprechender Typ der Politik ist die Biopolitik (den Begriff Biopolitik führt Foucault zum ersten Mal in Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I ein).

Zweitens umfasst sie die Tendenz der Vorrangstellung des Machttypus der „Regierung“. Also die Tendenz, dass sich in spätkapitalistischen Gesellschaften oft die staatliche Organisation in Form einer Regierung durchgesetzt hat, die wiederum zu einer ganzen Reihe spezifischer Regierungsapparate und Wissensformen geführt hat (Foucault 2006:162f).

Schließlich ist sie das Ergebnis des Vorgangs der Gouvernementalisierung des Staates (als Transformation des Verwaltungsstaates aus dem 16. Jahrhundert). Die Gouvernementalisierung des Staates ist nach Foucault das Phänomen, dass es dem Staat erlaubt, zu überleben. Das heißt, es geht bei Foucault nicht um die Verstaatlichung der Gesellschaft, also nicht darum, dass der Staat eine Übermacht erhält. Der Staat sei gouvernementalisiert worden meint, dass die Techniken des Regierens bestimmen, was in die Zuständigkeit des Staates gehört und was nicht. Die Gouvernementalität ist dem Staat damit zugleich innerlich und äußerlich (vgl. Foucault 2006:163f).
Der für die Gegenwart vorherrschende Modus von Machteffekten ist für Foucault Sicherheit. Grundlegend für diese Form des Regierens ist der Bezug auf bestimmte Risikokonstruktionen, an denen sich Sicherheitsdispositive als wichtigstes technisches Instrument ausrichten. Die moderne Gouvernementalität ist „eine Machtform, […]die sich als Steuerung begreift, die nur durch die Freiheit und auf die Freiheit eines jeden sich stützend sich vollziehen kann […].“ Das ist eine Revision (siehe Macht), die Foucault in seinen späteren Arbeiten einführt, dass Macht nur über Subjekte ausgeübt werden kann, insofern sie frei sind (Foucault 2005:257). Korrelativ zu den Freiheiten der Individuen entsteht gleichzeitig ein Sicherheitsdispositiv, um die Risiken zu bewältigen, die aus der Freiheit entstehen.

Foucault versteht politische Macht als eine Führung von Führungen und als Schaffung von Wahrscheinlichkeiten: „»Führung« heißt einerseits, andere (durch mehr oder weniger strengen Zwang) zu lenken, und andererseits, sich (gut oder schlecht) aufzuführen, also sich in einem mehr oder weniger offenen Handlungsfeld zu verhalten. Machtausübung besteht darin, »Führung zu lenken«, also Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit von Verhalten zu nehmen“ (Foucault 2005:256). Regierung integriert in diesem Verständnis Subjektivität (sich selbst regieren) und politische Herrschaft (regiert werden). Sie integriert Macht, aber auch Widerstand (nicht dermaßen regiert werden wollen). Selbstregierung bedeutet, dass Subjekte sich häufig widerstandslos und ohne dazu gezwungen zu werden durch verinnerlichte Normen und Wertevorstellungen in das Gefüge der Kräfteverhältnisse einfügen und anpassen. Macht ist in diesem Verständnis ein „auf Handeln gerichtetes Handeln“ (Foucault 2005:256), ein Handeln, dass Einfluss auf das Handeln anderer nimmt. Diese Regierungskunst zeichnet sich also einerseits durch äußere Fremdführung (Führung durch andere, Machttechnologien) und innere Führung (Selbstführung, Selbsttechnologien) aus.

Die Begriffe Gouvernementalität und Regierung scheinen sich bei Foucault und in der Rezeption seines Werkes manchmal zu vermischen. Foucault hat jedoch versucht, die beiden Begriffe analytisch zu trennen. Er bestimmt Gouvernementalität als „»das strategische Feld beweglicher, veränderbarer und reversibler Machtverhältnisse«, in dessen Innerstem sich die Typen der Verhaltensführung oder der »Führung des Verhaltens« […] einrichten, die […] [Regierung] charakterisieren“ (Situierung der Vorlesungen durch Sennelart, in: Foucault 2006:566). Regierung meint also in jedem Fall Führung von Menschen als Einzelne oder als Kollektiv, die Praktiken des Lenkens von Menschen von der Verwaltung bis zur Erziehung.
Gouvernementalität und Regieren sind in diesem Verständnis nicht dasselbe wie Herrschen, sondern etwas Spezifisches, das Foucault vor allem vom christlichen Pastorat ableitet. „Wie der Schäfer die Herde führt, für sie sorgt und sie in diesem Sinne regiert, bedeutet die Regierung die Führung und die Sorge um eine Menge von Menschen wie zugleich um die Einzelnen in dieser Gesamtheit[…].“ (Sarasin 2005:176)

Gouvernementalität könnte also mit einem Wort als Regierungskunst bezeichnet werden, dagegen steht im Kontext von Widerstand und Subversion die Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden, die Foucault
in seinem Aufsatz Was ist Kritik? (Foucault 1992:12) erläutert.

Für einen Einstieg in das Thema: Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, hg. von Ulrich Bröckling, Thomas Lemke und Susanne Krasmann (2007).

Foucault, Michel (1992). Was ist Kritik?, Berlin;
Foucault, Michel (2005). Subjekt und Macht, in: Michel Foucault, Analytik der Macht, Fr.a.M., S. 240-263;
Foucault, Michel (2006): Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I, F.a.M.;
Sarasin, Philipp (2005). Michel Foucault. Zur Einführung, Hamburg;

zurück zum Glossar

2 responses to “Gouvernementalität

  1. Hab Dank für den Hinweis und entschuldige die Verspätung der Reaktion dadrauf. Die Glossar-Texte hier sind aus den Beilagen der Print-KRASS-Magazine und in eben diesen Beiheften befinden sich am Ende jeweils die Literaturangaben. Daher sind die hier virtuell untergegangen. Jetzt ist die Literatur aber bei allen Glossareinträgen angegeben.

Schreibe einen Kommentar zu redaktion Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert