desperate times – multiple measures

Prozessualität leben und strategisch vielfältigen

Widerstand leisten

Widerstand verstehe ich dabei nicht als einzig in radikalen Umstürzen sichtbar oder denkbar. Subversion kann sich oft nur in kleinen Unterscheidungen zum Hegemonialen ausdrücken und sollte deshalb in ihrer Vielfalt anerkannt werden. Auch zu stark vereinfachend wäre, Widerstand allein in der Verweigerung von Anpassung zu begreifen. Häufig scheint im Hinblick auf Teilhabemöglichkeiten eine Menge Anpassung, Scheitern und Neujustieren nötig, um überhaupt subversiv handlungsfähig werden zu können.

Startpunkt: Subjektivität

Um die Aktivität eines nicht gänzlich determinierten, aber dennoch in Unterwerfungs- und Konstituierungsprozesse verwobenen Subjekts fassen zu können, habe ich die Bezeichnung prozessual-strategisch entwickelt. Damit soll die Aktivität der Selbst- und Wirklichkeitskonstituierung betont werden, die zwar innerhalb diskursiver und performativer¹ Praktiken eingeschlossen und so unvorhersehbar/unkontrollierbar ist, aber dennoch unter politischen Vorzeichen strategisch gegen die hegemonialen Praktiken der Signifizierung (die soziale Welt wahrzunehmen und zu deuten) gewendet werden kann.

Prozessual zunächst deshalb, weil Subjekte mit dem französischen Philosophen Jacques Derrida, ebenso wie Bedeutungen, ständig in Bewegung und abhängig von Differenzen und Kontexten sind. Subjekte befinden sich unablässig im Werden und können nicht als abgeschlossen gedacht werden (vgl. Bennington/Derrida 1994 u. Derrida 1996, 2004). Zentral ist für mich außerdem der Begriff der produktiven Macht des französischen Psychologen und Philosophen Michel Foucault, die eben nicht rein repressiv, sondern in allen sozialen Beziehungen netzwerkartig und gleichzeitig wirkt. Indem die Macht durch Normalisierungsprozesse alle Körper durchdringt, schafft sie Anreiz und Notwendigkeit, den diskursiven Normen entsprechen zu müssen. So bringt sie neben Diskursen und Machtverhältnissen auch Subjektpositionen hervor. Vor diesem Hintergrund wird eine Vielzahl variabler Subjektpositionen denkbar, die sich entlang diskursiver Vorgaben und Machttechniken formieren (Foucault 1983, 1993, 1994).

Prozessual schließlich auch in Anlehnung an die amerikanische Philosophin Judith Butler und ihren Begriff der ‚performativen Materialisierung’ von kulturell intelligiblen – also lesbaren und als normal anerkannten – körperlichen Subjekten. Dieser Prozess der Herstellung ist abhängig von der Wiederholbarkeit und Zitatförmigkeit regulativer Normen. Gleichzeitig sind durch dieses ständige Wiederholen gewisse Instabilitäten in Form von Rissen oder Brüchen bereits vorprogrammiert und sogar konstitutiv für die Subjektivierung (vgl. Butler 1993, 1999).

Strategisch handlungsfähig kann eine so verstandene Subjektivität nun also werden, indem sie sich diese prozessuelle Materialisierung in ihrer Offenheit sowie die immer vorhandene Verwobenheit in Machtverhältnisse klar macht und die Herstellung eigener Identitäten und Praxen gegen diskursive und regulative Normen wendet. Die konstitutive Beschränkung der Subjektivierung verhindert Handlungsfähigkeit also nicht, aber ver-ortet sie als eine wiederholende, reartikulierende Praxis, welche nie außerhalb von Machtverhältnissen stattfinden kann (vgl. Butler 1998). Auch mit Foucault ergeben sich strategische Möglichkeiten der Intervention im Spannungsfeld von Unterwerfung und Autonomie durch und bei der Subjektwerdung. Deshalb gilt es, neue Formen der Subjektivität hervorzubringen, in denen „wir die Art von Individualität, die man uns jahrhundertelang auferlegt hat, zurückweisen“ (Foucault 1994: 250).

Mit Derridas bejahender Hinwendung zum konstitutiven Außen – dem Anderen, das die Grenzziehung zur Normalität des gesellschaftlich Anerkannten sichern muss (vgl. Derrida 2005) – schließlich, kann ein ethischer Rahmen gezogen werden. Dieser verlangt vor allem, jede subversive Strategie oder Politikform beständig und immer wieder daraufhin zu befragen, was oder wer dabei ausgeschlossen wird.

Politik beginnt mit Entscheidungen in der Unentscheidbarkeit

Die Handlungsmächtigkeit eines dekonstruierten Subjekts vor dem eben beschriebenen Hintergrund zu fassen, bedeutet diese zunächst als die Aktivität des politischen Urteilens zu verstehen (Pulkkinen 2000). Aus poststrukturalistischer und queer-feministischer Sicht kann ganz klar kein ideales Urteilen existieren. Auch Politik ist ein unabschließbarer Prozess, der keine richtigen Antworten liefern und keinen zufrieden stellenden Endpunkt am Horizont festlegen kann. Es geht vielmehr darum, anzuerkennen, dass „das Politische“ notwendigerweise ein Diskurs/Ort/Raum der Auseinandersetzung ist. Ein Raum, in dem durch diskursive Praxen Über- und Unterordnung, Ein- und Ausschlüsse hergestellt werden, welche strukturierend wirken und Hegemonie ermöglichen – diese damit aber auch anfechtbar machen. Es ist in Anbetracht der vielen Differenzen und pluralistischen Voraussetzungen innerhalb einer Gesellschaft nicht möglich und sogar gefährlich, einen endgültigen Konsens anzustreben.

Aus Derridas Sicht sollte der Unentscheidbarkeit zwischen dem Allgemeinen und dem Singulären Rechnung getragen werden und die erstrebenswerten Ideale von Gerechtigkeit oder Demokratie als zu Kommende oder im Werden begriffen werden. Dies betont einerseits den prozessualen Charakter von Politik und politischen Entscheidungen und lässt andererseits den Konsens als Lösung von politischen Konflikten höchst vorläufig und fragwürdig erscheinen. Die Ethik der Dekonstruktion fordert sehr wohl Entscheidungen, nur müssen diese zunächst immer die Unentscheidbarkeit durchlaufen, wenn sie sich dem absoluten oder ausgegrenzten Anderen öffnen wollen und das Unmögliche ermöglicht werden soll. In diesem Sinne kann sogar gesagt werden, dass eine Auseinandersetzung nur dann eine politische ist, wenn sie unentscheidbar ist. Sonst wäre Politik eine rein technische Veranstaltung von festgelegten Verfahren.

Machtausübung wird mit Foucault als „Einwirkung auf die Handlungen anderer“ (Foucault 1994: 255) definiert. Sein Konzept der Gouvernementalität² sucht die systematische Verbindung und wechselseitige Konstituierung von Machttechniken, Wissensformen und Prozessen der Subjektivierung zu fassen, was mir für die Frage nach agency und Widerstand von zentraler Bedeutung erscheint. Die Betonung auf die Selbst-Regierung im Konzept der Gouvernementalität weist nicht nur darauf hin, dass sich das Subjekt immer in Bezug auf ein spezifisches Wissen und dessen Reflexion konstituiert, sondern dass die Verortung innerhalb von diesen Macht-Wissens-Beziehungen ein Subjekt erst in die Regime der Akzeptabilität eintreten lässt (vgl. Opitz 2004). Dort eingenommene Subjektpositionen, subjektive Umdeutung und Umgestaltung diskursiver Praxen können vor diesem Hintergrund eben auch störend auf die hegemonialen Praxen, großen Erzählungen und Wahrheiten einwirken, statt sie lediglich immer wieder aufs Neue zu reproduzieren.

Queer-feministische Strategien und Interventionen

Genau dieser störende Eingriff in hegemoniale Praxen ist das Anliegen von Butler und mit ihr auch das queer-feministischer Theorie und Praxis. So ist die Frage danach, was politische agency sein könnte, wenn diese wiederum nicht unabhängig von Machtdynamiken gedacht werden kann, für ihre Arbeiten zentral (Butler 1999: xxiv). Das Politische wird von ihr in den signifizierenden Praktiken verortet, die Identitätskonzepte errichten, regulieren und deregulieren (Butler 1999: 188). Da jede Materialisierung von Wirklichkeit auf ihre Wiederholungen angewiesen und davon abhängig ist, rückt die Art und Weise der unumgänglichen Reiteration diskursiver Praxen in den Mittelpunkt der Betrachtung. Denn wenn diese Signifikationsprozesse nicht rein restriktiv geregelt sind, dann kann Handlungsmächtigkeit dort einsetzen, wo Möglichkeiten der Variation innerhalb dieser Wiederholungen bestehen. Butler führt die Parodie als subversive Strategie an und verortet sie im Kontext einer aufkommenden queeren Bewegung³, für die die Verbreitung von theatralischen Handlungs- und Protestformen zentral ist (Butler 1993: 231). Innerhalb ihres in Haß Spricht dargelegten Konzepts einer Politik des Performativen wird Performativität als erneuerbare Handlung ohne klaren Ursprung oder Ende verstanden und die Möglichkeit einer subversiven Fehlaneignung über den Kontext feministischer Politik hinaus erweitert. Die Praxis der Resignifikation fußt auf der Annahme, dass herrschende Diskurse ent-eignet werden können und so die Möglichkeit einer subversiven Gegen-Aneignung (Butler 1998: 222) von verletzenden Anrufungen besteht.

Mit Butlers Politikverständnis lassen sich Strategien benennen und weiterdenken, die diesen Voraussetzungen Rechnung tragen. Fehlaneignung und Resignifikation sind Begriffe, die in Protestformen von queer politics ihren Niederschlag gefunden haben. Ihre Kritik an der heterosexuellen Matrix und die Entnaturalisierung der ‚Natürlichkeit’ binärer Zweigeschlechtlichkeit haben queere Theorie maßgeblich beeinflusst. Im Anschluss an diese theoretischen Ansätze möchte ich mich mit der Widerständigkeit einer prozessual-strategisch gedachten Subjektivität auseinandersetzen.

Divers Denken, Leben und Widerstand leisten

Widerstand beginnt bei uns selbst und den Praxen mit denen wir unsere Subjektivität stricken und uns die Welt konstruieren! Diese Aussage wirkt zunächst bestenfalls logisch, aber wenig weltumstürzlerisch. Dennoch ist sie mit vielen unangenehmen Fragen verknüpft: Wo performen wir uns selbst als resignifizierend und wirken grenzüberschreitend? Wann und warum befinden wir uns auf privilegierten Positionen? Wo beuten wir uns selbst und andere alltäglich aus? Mit wem und warum bilden wir Allianzen und setzen uns politisch ein? Welche politischen Kämpfe und Schauplätze blenden wir aus?

Ich finde es eine gute Spur, Widerstand zunächst im besten Sinne von benutzeruntypischem Verhalten zu verstehen und sämtliche Systeme der Normalisierung und Hierarchisierung zu „hacken“. Kritik nicht alleine als „dekonstruktiv-philosophische“ Schreibtischarbeit zu verstehen, erfordert sich selbst ständig kritisieren zu lassen und nie endgültig mit politischen Praxen zufrieden zu sein. So vielfältig und widersprüchlich wie gegen-wärtige Machtverhältnisse müssen auch unsere subversiven Strategien sein. So kann eine Demo im Rahmen der aktuellen Bildungsstreiks genauso nötig sein, wie das Zeichnen einer Online-Petition, die sich gegen gesetzliche Zensuren des Internets wendet. An anderer Stelle können wir uns aktiv für längst fällige und nicht eingelöste Statusrechte von Migrant_Inn_en und Flüchtlingen einsetzen und gleichzeitig anti-identitäre Politiken feiern, die Essentialismen, Ethnisierungen und Zuschreibungen angreifen. Wir können „Queer meets Disablity“ Workshops oder eine Winterschool zum herrschaftskritischen Potential des Begriffs Intersektionalität organisieren und dabei unsere Sensibilität für die Bedeutung von Barrierefreiheit schärfen. Oft geht es auch darum, sich Sprech- und Subjektpositionen anzueignen, die uns offiziell nicht zustehen, aber dabei nicht zu vergessen, dass wir nicht für andere sprechen können oder dürfen. In Anlehnung an Foucault glaube ich an die Formel: Auch viele kleine Widerstandsherde können die Verhältnisse zum Kochen bringen!

Do. Gerbig

1 Das Konzept der performativen Materialisierung geht auf Judith Butler zurück und kann als ein lebenslanger Prozess verstanden werden, der mit der Verwerfung von nicht-intelligiblen Positionen einhergehen muss. Dieser Prozess beginnt mit der ersten Anrufung bzw. Ansprache als Mädchen oder Junge. Jedoch vermag es eine einmalige performative Äußerung nicht die geforderte Kohärenz von geschlechtlich bestimmter Identität zu erschaffen und zunächst auch nicht zu stabilisieren. Es sind viele wiederkehrende und oft auch widersprüchliche oder modifizierte Anrufungen, die sich an das Subjekt richten. Sie motivieren und aktivieren dieses Subjekt, sich entlang diskursiver Formationen und vermittels deren performativer Umsetzung als stabil darzustellen und zu produzieren, dabei spielt es keine Rolle, dass dieser Prozess des Zitierens immer schon sein Scheitern beinhaltet. Kurzum: Indem wir alle, entlang diskursiver Vorgaben, immer wieder Geschlecht darstellen, stellen wir Geschlecht zugleich her. Es ist dabei wichtig, im Auge zu behalten, dass diskursive Praxen den Bereich der möglichen Geschlechtsdarstellung zu begrenzen versuchen und vorschreiben, wie die ideale menschliche Identität auszusehen hat. Darum ist es eben nicht ohne Weiteres möglich, sich eine Identität oder Subjektposition selbst auszuwählen, denn die diskursiven Formationen reduzieren den Bereich, derjenigen (geschlechtlichen) Subjektpositionen, die als intelligibel gelten können und anerkannt werden durch die Verwerfung von bestimmten anderen Identitäten als konstitutives Außen.
2 Foucaults Wortneuschöpfung soll die Verkopplung von Macht- und Wissensformen mit den Subjektivierungsprozessen des modernen Regierens fassen (Pieper/Gutiérrez Rodríguez 2003: 7f). Dabei werden Machttechnologien (Regierung durch andere) und Selbsttechnologien (Selbstregierung) als ineinander greifende Praktiken und als die „Führung der Führungen“ gedacht (ebd.: 8).
3 Butler sieht wie andere Queer-Theoretiker_innen in der Act-Up Bewegung und dem Aktionismus, welche sich in den frühen 1990er Jahren als queere Strategien gebildet haben, um dem Diskurs über AIDS, Schuld und Scham entgegen zu treten, den Ausgangspunkt einer queeren Bewegung (Butler 1999)

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