Wunschmaschine [machine désirante]

Die Wunschmaschinen bilden das nicht-ödipale Leben des Unbewußten. (AÖ: 502)

Wunschmaschinen ist eine Wortschöpfung (Neologismus) des Philosophen Gilles Deleuze (1925-1995) und des Psychoanalytikers Félix Guattari (1930-1992), die das Unbewusste bezeichnet. Mit Wunschmaschinen wird sich in der Einleitung von KRASS #2 (siehe dort auch unsere Argumentation zum synonymen Gebrauch von Wunsch und Begehren) sowie in den Artikeln Begehren gedruckt und Von falschen Bedürfnissen und Waren-Wünschen auseinandergesetzt.

In ihrem Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I (Ľ Anti-Œdipe; 1972) [AÖ], in dem Deleuze und Guattaris kritische Haltung gegenüber der Psychoanalyse in Freud’scher Tradition schon im Titel deutlich anklingt, wird das Unbewusste als schizophrenes maschinelles Unbewusstes betrachtet, das nicht nur Teile der menschlichen Psyche, sondern vielmehr die gesamte Gesellschaft durchzieht. Anti-Ödipus zeichnet sich– wie eigentlich alle gemeinsamen Werke der beiden Theoretiker– durch einen eher ‚ungewöhnlichen‘ Schreibstil aus. Die beiden Autoren bewegen sich quer durch psychoanalytische und philosophische Kontexte und Diskurse; zitieren unentwegt aus literarischen Werken von Artaud, Beckett, Büchner, Lawrence und(über)setzen verschiedene Aussagen und Begrifflichkeiten in neue Kontexte. Manchmal mögen ihre Texte ‚verrückt‘ oder absurd erscheinen, jedoch stecken dahinter sehr komplexe theoretische Auseinandersetzungen, auf die wir hier in ihrer Komplexität nicht eingehen können und es wahrscheinlich auch an anderer Stelle nicht könnten. In Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie (II) [TP] – acht Jahre nach Erscheinen des Anti-Ödipusschreiben Deleuze und Guattari: „Wir haben den Anti-Ödipus zu zweit geschrieben. Da jeder von uns mehrere war, ergab das schon eine ganze Menge. Wir haben alles verwendet, was uns begegnet ist, das Nächstliegende und das Entfernteste.“ (TP: 12, Hervorh.i.O.). Guattari verortet Anti-Ödipus als eine direkte Folge der 1968er Bewegungen (vgl. Deleuze 1993: 27). In außerakademischen linken Kreisen erzeugte das Buch Euphorie. Es traf genau in die Auseinandersetzungen um das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft sowie der Frage nach einer politischen Praxis in der unorthodoxen Linken und schien Antworten auf die Möglichkeit eines Freudomarxismus zu versprechen. In akademischen Kontexten und Diskursen wurde Anti-Ödipus als Pop-Philosophie abgelehnt (vgl. Jäger 1997: 116; Breuer et al. 1996: 64). Im Anti-Ödipus gibt es zwei Linien: zum einen eine Kritik an der Psychoanalyse und ihrer strukturalistischen und symbolischen Vorgehensweise, die sich in der Ödipus-Fixierung bzw. der Reduktion des Ödipuskomplexes (siehe unten) auf Libido (Triebe, Affekte, Begehren) und die Familienbesetzung widerspiegelt; zum anderen beinhaltet er eine Untersuchung des Kapitalismus in seiner Beziehung zur Schizophrenie (vgl. Deleuze 1993: 35). Im Zuge dieser Kritiken entwickeln Deleuze und Guattari die Wunschmaschinen und die Schizo-Analyse.

Die Wunschmaschinen werden von Guattari in den Anti-Ödipus gebracht, er hatte diese schon erarbeitet, bevor er Anfang der 1970er die Zusammenarbeit mit Deleuze begann (vgl. Deleuze 1993: 25). In der Psychoanalyse wird von einem Begehren/Wunsch ausgegangen, dass sich durch einen Mangel (an einem realen Subjekt) äußert und dadurch passiv auf Imagination und Phantasie beschränkt ist. Gegen dieses Verständnis von Begehren als negativem Mangel setzen Deleuze und Guattari – selbst langjähriger Schüler Jacques Lacans, einem Vertreter dieser Perspektive – ein positives Verständnis von Wunsch und dessen Konstitution: „Dem Wunsch fehlt nichts, auch nicht der Gegenstand. Vielmehr ist es das Subjekt, das den Wunsch verfehlt, oder diesem fehlt ein feststehendes Subjekt; denn ein solches existiert nur kraft Repression.“ (AÖ: 36) Gegen den Wunsch, der einen Mangel bezeichnet, setzen sie den Wirklichkeit produzierenden Wunsch (vgl. ebd.) und das produktiv-maschinelle Unbewusste der Wunschmaschine. Ihrer Meinung nach gibt es nicht die gesellschaftliche Produktion auf der einen und die Phantasie als Wunschproduktion auf der anderen Seite (vgl. AÖ: 38). Deleuze und Guattari erklären den Wunsch und die gesellschaftliche Produktion für identisch (vgl. Breuer et al. 1996: 65f.). „Es gibt nur den Wunsch und das Gesellschaftliche, nichts sonst“ (AÖ: 39), denn „[i]n Wahrheit ist die gesellschaftliche Produktion allein die Wunschproduktion selbst […]“ (ebd.). Alles dreht sich in diesem Sinne um die Wunschproduktion (vgl. AÖ: 494), das gesamte gesellschaftliche Feld ist vom Wunsch und dessen Produktion durchzogen (vgl. AÖ: 39). Wie der organlose Körper (siehe dieses Glossar) kann die Wunschproduktion, wenn sie gesellschaftlich besetzt ist, ihre eigene Unterdrückung wünschen (vgl. Kuhn 2005: 67). Die Unterdrückung des Wunsches machen die beiden Autoren in dem sogenannten Ödipuskomplex aus. Die ‚Entdeckung‘ des Unbewussten ist Verdienst des Begründers der Psychoanalyse Sigmund Freud (1856-1939), doch kritisieren Deleuze und Guattari hier die „tiefe Zugehörigkeit [der Psychoanalyse]zur kapitalistischen Gesellschaft“ (Deleuze 1993: 35). Auch andere Poststrukturalist_inn_en, bemerken, dass dessen Konzeption in Kompliz_inn_enschaft mit der herrschenden kapitalistischen Ordnung stehe. „Die große Entdeckung der Psychoanalyse war die Wunschproduktion, waren die Produktionen des Unbewußten. Mit Ödipus wurde diese Entdeckung schnell wieder ins Dunkel verbannt […].“ (AÖ: 32f.)

Exkurs Ödipus: Der Ödipuskomplex oder auch Ödipuskonflikt, dem die psychosexuelle Entwicklung des ‚männlichen‘ Kindes – von der die ‚weibliche‘ abgeleitet wird (auch Elektrakomplex genannt) – zugrunde liegt, zieht sich durch Sigmund Freuds Werk. In seiner Konstruktion des Ödipuskomplexes bezieht er sich auf das mythische Vorbild des Ödipus. In dieser griechischen Tragödie geht es um den Inzest zwischen Mutter und Sohn, sowie das Töten des Vaters als Konkurrenten durch den Sohn. In diesem Kontext bestimmt Freud, dass sich die sexuellen Wünsche des ‚männlichen‘ Kindes in seiner sogenannten ödipalen (auch phallischen) Phase, in der Geschlechtsunterschiede erstmalig wahrgenommen werden, auf die Mutter richten und der Vater als Konkurrent wahrgenommen und verabscheut werde. Mit der allmählichen Wahrnehmung und Anerkennung des Geschlechtsunterschieds, gehe nach Freud auch die Einsicht in die Unerfüllbarkeit der erotischen und aggressiven Wünsche des ‚männlichen‘ Kindes einher (vgl. Berkel 2008: 41-46). Das Kind ersetzt seine ödipalen Objektbindungen an die Eltern durch die Bindung an das sogenannte Über-Ich (siehe unten)(vgl. ebd.: 49).

Deleuze und Guattari kritisieren, dass das Unbewusste durch die familiäre Struktur des Ödipuskomplexes in eine bestimmte Form – in das Dreieck Vater-Mutter-Kind – gezwängt würde, da die eigentlich vielfältige Produktion des Unbewussten auf diese Struktur einer kleinbürgerlichen Familie reduziert und den Wunsch/das Begehren damit in einer Sackgasse enden lasse. Freud unterdrücke und unterwerfe – so die Autoren – damit das Unbewusste: „Freud entdeckt den Wunsch als Libido, den Wunsch, der produziert. Aber gleichzeitig gibt er keine Ruhe, bis die Libido wieder in der familialen Repräsentation entfremdet ist (Ödipus). […] Der Wunsch wird auf eine Familienszene zurechtgestutzt.“ (Deleuze 1993: 29) Statt an der ‚wirklichen‘ Befreiung mitzuwirken, sei die Psychoanalyse selbst Teil der allgemeinen bürgerlichen Repression, die darin bestehe „die europäische Menschheit unter dem Joch von Papa-Mama zu belassen und nie mit diesem Problem zu brechen.“ (AÖ: 63; Hervorh.i.O.) Die gesamte Wunschproduktion werde von Ödipus unterdrückt (vgl. Deleuze 1993: 30): „Man hat dem Unbewußten Eltern gemacht!“ (AÖ: 102)

Im Gegensatz dazu ist das Unbewusste bei Deleuze und Guattari „[…] elternlos – es erzeugt sich selbst in der Einheit von Natur und Mensch.“ (AÖ: 61) Sie möchten dem Unbewussten mit ihren Wunschmaschinen sein subversives Potential wiedereinschreiben und gegen diese starre psychoanalytische Struktur der Psyche und des Wunsches/Begehrens intervenieren. Deleuze und Guattari holen das Unbewusste aus Freuds Keller und überführen es in die alltägliche Produktion. Freud benutzt mehrfach zur Veranschaulichung des psychischen Apparates die Metapher eines Hauses, innerhalb dessen das Unbewusste die unterste Etage besetzt (vgl. Jäger 1997: 117). Diese Metapher schlägt sich auch in der etwas bekannteren Feststellung Freuds, dass das Ich nicht einmal Herr im eigenen Haus sei, nieder. In der Psychoanalyse werden in Anlehnung an Freud und seinem zweiten topischen Modell drei Instanzen der Seele unterschieden: Ich, Es und Über-Ich. Das Ich befindet sich auf der Ebene des Bewusstseins, versucht die seelischen Vorgänge zusammenzufassen, unterhält eine Beziehung zur Außenwelt und ist als vernünftig und besonnen zu charakterisieren. Das Es, als das Unbewusste und Verdrängte ist die Ebene der Libido und somit voller unorganisierter und chaotischer Triebe (wie Sexualtrieb, Nahrungstrieb…), Erregungen und Bedürfnisse. Auf der Ebene des Es geht es um die Befriedigung der Triebe; Moral und Gewissen existieren in dieser Instanz nicht. Die Ebene des Über-Ich dagegen stellt die Moral, das Gewissen, die sozialen und elterlichen Werte und Normen dar und spiegelt somit die verinnerlichten, von außen herangetragenen Werte, wider (vgl. Berkel: 2008: 75ff.).Das Ich steht in diesem Sinne zwischen den Instanzen des Es, des Über-Ich und der Außenwelt und damit in einem ständigen Konflikt mit den verschiedenen Anforderungen und Ansprüchen.

Auch diese Konstruktion der Psyche mit ihrer Determination von Bewusstem und Unbewusstem wird von Deleuze und Guattari kritisiert: Die „Personifizierung dieser Apparate (das Über-Ich, das Ich, das Es), eine theatralische Inszenierung, in der die wirklichen Produktivkräfte des Unbewußten durch bloß repräsentative Bedeutungen ersetzt werden. Damit werden die Wunschmaschinen immer mehr zu Theatermaschinen […]. Immer mehr tendieren sie dazu, im Verborgenen zu funktionieren, hinter den Kulissen.“ (Deleuze 1993: 29) Das Es soll nicht mehr – wie bei Freud – zum Ich werden (also die Bewusstmachung des Unbewussten, um es zu kontrollieren), sondern das Es funktioniert bei Deleuze und Guattari „[…] überall, bald, rastlos, dann wieder mit Unterbrechungen. Es atmet, wärmt, ißt. Es scheißt, es fickt. Das Es … Überall sind es Maschinen im wahrsten Sinne des Wortes: Maschinen von Maschinen, mit ihren Kupplungen und Schaltungen. […] Was eintritt sind Maschineneffekte, nicht Wirkungen von Metaphern.“ (AÖ: 7)

Mit den Wunschmaschinen geht es nicht mehr länger – wie noch in der Psychoanalyse – um Metaphern oder Interpretationen, denn die Wunschmaschine ist kein psychischer Vorgang in einer eindeutig strukturierten Psyche, sie ist auch nicht sprachlich strukturiert, wie das Unbewusste der Psychoanalyse mit ihrem Geständniszwang (vgl. Foucault 1983: 63ff.). Weder „[…] Mensch noch Natur sind vorhanden, sondern einzig Prozesse, die das eine im anderen erzeugen und die Maschinen aneinanderkoppeln.“ (AÖ: 8) Jede Maschine ist in diesem Produktionsprozess einer weiteren angeschlossen, der gegenüber sie Einschnitte und Entnahmen ausführt (vgl. AÖ: 11). Die Wunschmaschinen bestimmen sich als ein System von Einschnitten, das in Beziehung zu einem kontinuierlichem materiellen Strom steht. „Der Wunsch läßt fließen, fließt und trennt.“ (AÖ: 11) Diese Einschnitte führt die Maschine aus, weil sie an eine andere Maschine, die Erzeugerin des Stroms ist, angeschlossen ist. (vgl. AÖ: 47) Als Beispiel geben Deleuze und Guattari die Kette After- und Darmmaschine – Darm-und Magenmaschine – Magen-und Maulmaschine – Maulmaschine- und Herdenstrom (vgl. ebd.).

Deleuze und Guattaris Perspektive geht nicht mehr von festen Einheiten und Wesensbestimmungen der Dinge an sich aus, sondern es geht um Verkettungen und Anschlüsse, die für nichts anderes stehen als für sich selbst (vgl. Günzel 1998: 70). Das Verständnis von Maschinen in der Philosophie Deleuze und Guattaris hebt sich von einem alltäglichen Verständnis ab: „Alles ist Maschine.“ (AÖ: 7) Wunschmaschinen sind elementarer Bestandteil für alle Produktionsprozesse. Sie sind ein wesentlicher Teil des sozialen Körpers, der in allen sozialen und technischen Maschinen angelegt ist. Denn der Wunsch produziert das Reale, und nicht umgekehrt das Reale den Wunsch: „[n]icht der Wunsch lehnt sich den Bedürfnissen an, vielmehr entstehen die Bedürfnisse aus dem Wunsch.“ (AÖ: 36)

Der Ödipuskomplex ist kein Zustand des Wunsches, sondern nur eine gesellschaftliche Konstruktion, „nichts weiter als eine Idee, […] eine Idee im Dienste der Verdrängung […].“(AÖ: 149) Der Wunsch werde aber generell nicht verdrängt, weil er Wunsch nach der Mutter und dem Tod des Vaters sei. Sondern er werde verdrängt und gesellschaftlich unterdrückt, da „[j]ede Position, die der Wunsch gegen die Unterdrückung einnimmt, wie lokal oder winzig sie sein mag, […]nach und nach das Ganze des kapitalistischen Systems in Frage [stelle]und […]dazu bei [trage], es in die Flucht zu schlagen.“ (Deleuze 1993: 34) Wunsch bedeutet in diesem Verständnis keinen symbolischen Ausdruck mehr, keine Phantasie oder Metapher, die es zu verstehen und interpretieren gilt wie in der Psychoanalyse; „Wunsch bezeichnet vielmehr eine Energie, die fließt, ohne einen Sinn oder Zweck geleitet zu werden. Umgekehrt ist der Sinn ein Nebenprodukt des Funktionierens, eine momentane Gestalt, die gleichsam vom ewigen Wunsch-Strom ans Ufer gespült wird.“ (Breuer et al. 1996: 67) Dahinter ruht ein Verständnis, das jede Ganzheit verwirft und eine Bewegung vom Fließen, Kombinieren und Trennen völlig heterogener Dinge im ständigen Werdens-Prozess (siehe organloser Körper) begreift. Diese Perspektive lässt sich vielleicht mit einer weiteren zentralen Idee der Philosophie Deleuze und Guattaris verdeutlichen: dem Rhizom.

Exkurs Rhizom:

Den Begriff des Rhizoms (Wurzel) entlehnen Deleuze und Guattari der Biologie. Der Rhizomatik als Wurzelgeflecht stellen sie die Metapher des Baumes der Erkenntnis, wie sie sich in der abendländischen Philosophie finden lässt, entgegen. Diese Metapher drückt die Organisation des Wissens in ihrer hierarchisch vertikalen Verteilung von unten nach oben aus. Das Rhizom als Wurzelgeflecht dagegen wächst in alle Richtungen und organisiert sich in einer netzwerkartigen Struktur: „Das Rhizom selber kann die unterschiedlichsten Formen annehmen, von der verästelten Ausbreitung in alle Richtungen an der Oberfläche bis zur Verdichtung in Zwiebeln und Knollen.“ (TP:16) Im Rhizom verweben sich nach Deleuze und Guattari Einheit und Vielheit. Es zeichnet sich dadurch aus, dass es einen beliebigen Punkt mit anderen beliebigen Punkten verbindet, also auch die Verbindung ganz heterogener Elemente somit möglich ist. In diesen Verbindungen gibt es keine Subjekte oder Objekte, sondern nur temporäre Geflechte. Das Rhizom besteht nicht aus einer Einheit, sondern aus beweglichen Richtungen, und es hat weder Anfang noch Ende, jedoch eine Mitte von der aus es sich ausbreitet. Damit kann ein Rhizom an jeder beliebigen Stelle unterbrochen oder zerrissen werden und es kann sich an anderen Linien weiter fortsetzen. Es befindet sich in einem permanenten Prozess des Festlegens und Auflösens. „Wenn ein Rhizom verstopft ist, wenn man einen Baum daraus gemacht hat, dann ist es vorbei, dann kann das Begehren nicht mehr Strömen, denn das Begehren wird nur durch das Rhizom bewegt und erzeugt.“ (TP: 26) Im Gegensatz zur binären Verbindung des Baumes zwischen zwei Punkten, besteht das Rhizom aus Linien und ist damit nicht hierarchisch oder zentriert organsiert. Deleuze und Guattari beschreiben das Rhizom auch als Karte (im Gegensatz zum Baum als Kopie, der sich auf ein vermeintliches Original zu beziehen scheint), die immer zerlegt, verbunden, umgekehrt und modifiziert werden kann und die damit viele Fluchtlinien, Ein- und Ausgänge besitzt (vgl. TP: 35-37). Im Rhizom als Bewegung des Werdens (siehe organloser Körper) ist die Möglichkeit der Veränderung von Verhältnissen angelegt: „Bildet Rhizome und keine Wurzeln, pflanzt nichts an! Sät nichts aus, sondern nehmt Ableger! Seid weder eins noch multipel, seid Mannigfaltigkeiten! Zieht Linien, setzt nie einen Punkt! Geschwindigkeit macht den Punkt zur Linie! Seid schnell, auch im Stillstand! […] Habt kurzlebige Ideen. Macht keine Photos oder Zeichnungen, sondern Karten.“ (TP: 41)

Die Rhizomatik äußerst sich ebenfalls im Maschinenbegriff bei Deleuze und Guattari, der ein neues Verständnis von Wunsch und Maschine beinhaltet (vgl. Breuer et al. 1996: 66). „Die Maschine bildet ein Nachbarschaftsgefüge zwischen Mensch, Werkzeug, Tier und Ding. Sie ist diesen Elementen gegenüber das Primäre, da sie die abstrakte Linie darstellt, die durch jene hindurch verläuft und sie in einen gemeinsamen Funktionszusammenhang bringt.“ (Deleuze/Parnet 1980: 113) Es geht um den Austausch zwischen diesen heterogenen Elementen, nicht um eine Maschine als ‚Verlängerung‘ oder ‚Ersetzung‘ des Menschen. Die Maschine ist das Strömen ihrer Komponenten. Im Gegensatz zur Struktur, die abgeschlossen erscheint, ist die Maschine ein Werden als permanente Öffnung (vgl. Raunig 2005).

Gegen die Psychoanalyse führen Deleuze und Guattari die Schizo-Analyse, die „Analyse der Linien, der Räume, der Werden.“ (Deleuze 1993: 54) ins Feld. Wo die Psychoanalyse nur Neurotiker hervorbringe, setzen die Verfasser die_den Schizophrene_n. „Die Schizo-Analyse trägt diesen Namen, weil sie, statt wie die Psychoanalyse zu neurotisieren, während ihres gesamten Behandlungsverfahrens schizophreniert.“ (AÖ: 470) Schizophrenie wird neben Paranoia in Anti-Ödipus als eine Möglichkeit beschrieben, auf die funktional organisierte (kapitalistische) Gesellschaft zu reagieren, sich ihr zu überlassen oder sich ihr zu widersetzen (vgl. Günzel 1998: 32). Im Sinne Deleuze und Guattaris befinden wir uns nämlich alle in einem produktiven Schizo-Prozess und nur wenn dieser ‚fehlgeleitet‘ wird, kommt es zu einer/einem Schizophrenen im klinischen Sinne. Die beiden Theoretiker unterscheiden zwischen (klinischen) Schizophrenen und (philosophischem) Schizo (vgl. Günzel 1998: 35). Es geht ihnen nicht um Schizophrene als Klinikinsassen, sondern um die Schizos, den Insassen der großen Klinik draußen, also in der Gesellschaft. In diesem Zusammenhang schreibt Deleuze 1973: „Mein Lieblingssatz im Anti-Ödipus ist: nein, wir haben nie Schizophrene gesehen.“ (Deleuze 1993: 24) Schizophrenie meint in diesem Sinne also ein allgemeines Gespalten-Sein. Der Schizo als Figur leitet sich hier von schize – Spaltung ab und ist damit die „Verkörperung der Produktionsweise der Wunschmaschine, die Einschnitte und Entnahmen durchführen, die trennen und abspalten.“ (Gerhard Brodt zitiert nach Günzel 1998: 32f.) Der Schizo-Körper ist damit also die Wunschmaschine (vgl. AÖ: 8). In der Konzeption des Schizos spiegelt sich auch Guattaris Aktivität in der Antipsychiatrie-Bewegung wider, die die Psychiatrie mit ihren klinischen Einrichtungen, ihren Klassifizierungen von Krankheiten usw. grundlegend in Frage stellt und eine Liberalisierung und Öffnung der Kliniken fordert.

Die Schizo-Analyse analysiert kein ödipales Dreieck oder ein ganzheitliches Subjekt, wie die Psychoanalyse, sondern rhizomatische Felder, in denen wir uns bewegen, und ist somit eine Gesellschaftsanalyse. (vgl. Kuhn 2005: 183) An die Stelle des symbolischen, ödipalen, strukturellen Unbewussten der Psychoanalyse setzen Deleuze und Guattari ein reales schizophren-maschinelles Unbewusstes (vgl. AÖ 401). Der Schizo als „der universelle Produzent.“ (AÖ: 13) entspricht mit seiner nicht-identischen Existenzweise dem offenen identitätslosen Werden der Rhizomatik. Dem Schizo gelingt es mit seinem Gespalten-Sein, ständig in Bewegung zu bleiben. Mit dieser schizo-nomadischen Existenzform kann der Schizo den gesellschaftlichen Zwängen einer feststehenden Identität entfliehen (vgl. Breuer et al. 1996: 66f.). „Wo die philosophische Tradition ein sich durchhaltendes Subjekt und festes Ich lehrte, propagierten Deleuze und Guattari eine fließende Subjektivität und ein nomadisch-schizoides Wesen.“ (ebd.: 67) Dem Schizo ist es gelungen, sich dem ödipalen Familien-und Personenbezug zu entziehen, „ich werde nicht mehr Ich, nicht mehr Papa-Mama sagen – und er hält Wort.“ (AÖ: 469) Deshalb ist der Schizo Feind der Psychoanalyse (vgl. AÖ: 69), jedoch für Deleuze und Guattari „ein besseres Vorbild […] als der auf der Couch hingestreckte Neurotiker.“ (AÖ: 7). Innerhalb der Schizo-Analyse gibt es nichts zu interpretieren, sondern nur Wunschmaschinen zu verketten. „Man braucht nur die beiden Punkte zu nehmen, über die die Psychoanalyse stolpert: es gelingt ihr nicht, an die Wunschmaschinen heranzukommen, weil sie sich an die ödipalen Figuren oder Strukturen hält; sie kommt nicht an die sozialen Besetzungen der Libido heran, weil sie sich an die Familienbesetzung hält. […] Was uns interessiert, interessiert die Psychoanalyse nicht: was sind deine Wunschmaschinen? In welcher Form delirierst du das gesellschaftliche Feld?“ (Deleuze 1993: 35)

Als Analyse des Begehrens ist die Schizo-Analyse eine praktische und politische, die sich sowohl auf Individuen, als auch auf die Gesellschaft bezieht (vgl. TP: 278). Die Gesellschaft und die Individuen sind durchdrungen von Ödipus und es gilt, die Gesellschaft zu desödipalisieren, also den Ödipuskomplex zu überwinden, und zur Produktion von Wunschmaschinen zu gelangen, (vgl. Kuhn 2005: 184) oder wie Deleuze und Guattari es schreiben: „Zerstören, zerstören: die Aufgabe der Schizo-Analyse führt über die Destruktion, die umfassende Säuberung, Ausschabung des Unbewußten. Ödipus zerstören, die Illusion des Ich, den Hampelmann Überich, das Schuldgefühl, das Gesetz, die Kastration…“ (AÖ: 401) Damit kann die Schizo-Analyse das theoretische Werkzeug einer gesellschaftlichen Veränderung sein (vgl. Kuhn 2005: 183). Die Aufgabe der Schizo-Analyse hat nach Deleuze und Guattari keinen anderen Sinn: Macht Rhizome! […] Probiert es aus.“ (TP: 342)

AÖ: Deleuze, Gilles/Guattari, Félix (1977) [1972]: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I.
TP: Deleuze, Gilles/Guattari, Félix (1992) [1980]: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie (II).
 
Berkel, Irene (2008): Sigmund Freud, Paderborn.
Breuer, Ingeborg/Leusch, Peter/Mersch, Dieter (1996): Fluchtlinien aufspüren.Das anarchistische Denken des Gilles Deleuze, in: Ingeborg Breuer/Peter Leusch/Dieter Mersch: Welten im Kopf. Profile der Gegenwartsphilosophie, Hamburg.
Foucault, Michel (1983) [1976]: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I, Frankfurt a.M.
Günzel, Stephan (1998): Immanenz. Zum Philosophiebegriff von Gilles Deleuze [online: http://www.stephan-guenzel.de/Texte/Guenzel_Immanenz.pdf, letzter Zugriff: 03.02. 2012].
Deleuze, Gilles (1993): Unterhandlungen: 1972-1990, Frankfurt a.M.
Deleuze, Gilles/Parnet, Claire (1980) [1977]: Dialoge, Frankfurt a.M.
Jäger, Christian (1997): Gilles Deleuze. Eine Einführung, München.
Kuhn, Gabriel (2005): Tier-Werden, Schwarz-Werden, Frau-Werden. Eine Einführung in die politische Philosophie des Poststrukturalismus, Münster
Raunig, Gerald (2005): Zum Begriff Maschine: Einige Fragmente über Maschinen, [online: http://eipcp.net/transversal/1106/raunig/de/print, letzter Zugriff: 15.02.2012].
 
Als Einführung können wir nur mit halber Überzeugung Gilles Deleuze zur Einführung von Michaela Ott (2005) oder Gilles Deleuze. Eine Einführung von Christian Jäger (1997) vorschlagen.

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One response to “Wunschmaschine [machine désirante]

  1. Hey danke für die gehaltvolle Zusammenfassung, schlägst du vlt. auch eine gute Einführung vor? Außerdem wollte ich dich noch fragen ob du mir von Deleuze/Guattari ein Buch empfehlen könntest worin nach ihrem Verständnis das Unbewußte besteht, also wie sie es bezeichnen, ist das Anti-Ödipus?
    Liebe Grüße
    mina

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